Kindliche Ausspracheentwicklung – PD Annette Fox-Boyer PhD (2024)

„Unter einer Aussprachestörung versteht man mögliche Schwierigkeiten im Bereich Perzeption, Artikulation /Motorische Produktion und /oder phonologischer Repräsentation der Sprech-Segmente (Konsonanten und Vokale), der Phonotaktik (Silben und Wortformen) und der Prosodie (lexikalische und grammatikalische Töne, Rhythmus, Betonung und Intonation), die sich negativ auf die Verständlichkeit und Akzeptanz der Kinder auswirken können.“(International Expert Panel on Multilingual Children's Speech 2012)

Das bedeutet, dass die Schwierigkeiten, die Kinder zeigen können, sehr vielfältig sein können. Laute können ausgelassen, ersetzt, hinzugefügt oder fehlgebildet werden, aber es können auch Wortanteile (Silben) ausgelassen werden, wie in „Nane“ (Banane). Manche Kinder haben Schwierigkeiten mit der Wort- und Satzbetonung (Prosodie = Sprachmelodie). Manche Kinder sind auch für Außenstehende gut verständlich, andere können nur von der Familie „übersetzt“ werden und Weitere sind selbst für engste Familie kaum zu verstehen.

Aussprachestörungen können isoliert, aber auch im Kontext einer Sprachentwicklungsstörung auftreten. In der Regel sind die Ursachen für eine Aussprachestörung nicht zu ermitteln. Es gibt medizinische Diagnosen, die häufig mit Aussprachestörungen einhergehen: Syndrome, angeborenen oder frühzeitig erworbene Hörstörungen, Fehlbildungen im Kiefer-/Gesichtsbereich (z.B. Spaltbildungen, Pierre Robin Sequenz), motorische Störungen (z.B. kindliche Cerebral Parese, Muskelerkrankungen), Störungen des Autismusspektrums oder erworbene Hirnschädigungen können dazu beitragen, dass sich eine Aussprachestörung ausbildet. Hinzu kommen einige bekannte Risikofaktoren. So sind zum Beispiel Jungen viel häufiger als Mädchen betroffen und oft finden sich andere betroffene Familienmitglieder bei denen eine Aussprachestörung, Sprachentwicklungsstörung oder eine Lese-Rechtschreibstörung vorlagen oder noch vorliegt. Kinder von Müttern mit niedrigem Bildungsabschluss sind häufiger betroffen als Kinder von Müttern mit höherem Bildungsabschluss. Unklar sind der Einfluss einer Frühgeburt, Komplikationen vor, während oder kurz nach der Geburt, auffällig intensiver Sauger/Flaschengebrauch und häufige Mittelohrentzündungen auf die Ausspracheentwicklung. Es gibt sowohl Studien, die hier einen Zusammenhang sehen, als auch solche, die diesen nicht nachweisen können.

Kinder mit Aussprachestörungen bedürfen einer Differentialdiagnose, die die Problematik (Symptomatik und mögliche Störungsart) des individuellen Kindes genau ermittelt. Hierfür sollten in jedem Fall durchgeführt werden:

  • Ein Bilderbenenntest um die Symptomatik auf Wortebene zu untersuchen. Hierbei wird das Kind gebeten ca. 100 Wörter, die dem kindlichen Wortschatz entsprechen, zu benennen. Es wird dabei überprüft, ob und welche phonologischen Prozesse bei dem Kind vorliegen und ob bestimmte Laute oder Lautverbindungen vom Kind gar nicht realisiert werden.
  • Ein Inkonsequenztest bei sehr stark unverständlichen Kindern. Hierbei wird das Kind gebeten ca. 30 Wörter innerhalb einer Therapiesitzung dreimal zu benennen. Es wird dabei überprüft in wie weit das Kind das gleiche Wort immer identisch ausspricht.
  • Eine Stimulierbarkeitsüberprüfung. Hierbei wird das Kind gebeten alle Laute der Muttersprache zu imitieren. Herbei wir überprüft, ob das Kind alle Laute der Muttersprache isoliert bilden kann.
  • Eine Überprüfung der Verständlichkeit. Hierbei werden die Eltern gebeten einen kurzen Fragebogen über die Verständlichkeit ihres Kindes in verschiedenen Situationen auszufüllen. Es soll ermittelt werden in wie weit das Kind durch seine Aussprachestörung in der Kommunikation mit anderen eingeschränkt ist.

Je nach Problematik des Kindes kommende ergänzende Untersuchungen hinzu. Mit Hilfe dieser Ergebnisse, den Informationen der Eltern über die bisherige kindliche Entwicklung (Anamnese) und eventuellen medizinischen Befunden lässt sich ermitteln, welcher Art di Aussprachestörung eines Kindes ist.

Die internationale Literatur beschreibt im Wesentlichen fünf Untergruppen von Aussprachestörungen (McLeod & Baker, 2017): 1. phonologische Abweichungen (phonological impairment), 2. inkonsequente phonologische Störung (inconsistent phonological disorder), 3. phonetische Störung (articulation disorder), 4. verbale Entwicklungsdyspraxie (childhood apraxia of speech, CAS) und 5. kindliche Dysarthrie (childhood dysarthria).

BILD

Bei Phonologische Abweichungen kommt es zu Lautersetzungen, -umstellungen, -auslassungen (phonologische Prozesse), die zur Folge hat, dass sich durch die Aufhebung phonemischer Kontraste die Bedeutung von Wörtern ändern kann, z.B. wird bei der Ersetzung von /k/ durch /t/ aus dem Wort <Kopf> <Topf>, aus dem Wort <Brot> durch Auslassung des /r/ <Boot>. Diese Veränderungen der Erwachsenensprache werden mit Hilfe „phonologischer Prozesse“ beschrieben. Die Ersetzung von k/ durch /t/ wäre z.B. der Prozess der Vorverlagerung der Velare, die Auslassung des Lautes /r/ zählt zu der Reduktion von Konsonantenverbindungen. Um ihr muttersprachliche Lautsystem zu erwerben, müssen Kinder physiologische Prozesse überwinden, die zunächst ihre Sprache vereinfachen. Für jede Sprache ist zu ermitteln, welche phonologischen Prozesse physiologischer Art sind und bis zu welchem Alter welcher Prozess überwunden werden muss (für das Deutsche siehe Fox-Boyer, 2016).

Phonologische Abweichungen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: die verzögerte phonologische Entwicklung und die konsequente phonologische Störung, denen in der Regel kognitiv-linguistische Schwierigkeiten zu Grunde liegen. Bei der verzögerten Entwicklung liegt mindestens ein physiologischer, phonologischer Prozess noch sechs oder mehr Monate nach dem typischen Überwindungsalter vor. Bei der konsequenten phonologischen Störung zeigt ein Kind mindestens einen pathologischen, phonologischen Prozess, d.h. dass dieser zu keinem Zeitpunkt der regelrechten Entwicklung entspricht. Zusätzlich können auch physiologisch altersgemäße oder verzögerte Prozesse vorliegen.

Bei einer diagnostizierten phonologischen Verzögerung kommt es häufig zu spontanen Verbesserungen. Diese nehmen nach einer Verzögerungsdauer von 9-12 Monaten deutlich ab. Mit Abschluss des fünften Lebensjahres (>4;11 Jahre) sind spontane Verbesserungen allerdings kaum mehr zu beobachten. Der Behandlungsbeginn sollte also in Abhängigkeit von der Verzögerungsdauer und dem chronologischen Alter entschieden werden.

Bei Kindern mit konsequenter phonologischer Störung lassen sich nur selten spontane Veränderungen der pathologischen Prozesse beobachten. Aufgrund der meist deutlichen Einschränkungen der Verständlichkeit, wird ein Therapiebeginn ab 3;6-4;0 Jahren empfohlen. Lediglich bei Vorliegen einer isolierten Kontaktassimilation sollte der Therapiebeginn erst im Alter von ca. 5 Jahren liegen.

Kinder mit einer inkonsequenten phonologischen Störung, sind nicht in der Lage, identische lexikalische Items (Wörter) eines Benenntests immer auf die gleiche Weise zu realisieren. Kinder, die mindestens 40 % der Wörter eines aus 25Wörtern bestehenden Benenntests inkonsequent realisieren, nachdem sie diese in drei unterschiedlichen Durchgängen innerhalb einer Sitzung benannt haben, werden dieser Gruppe zugeordnet. Es besteht keinerlei orale muskuläre oder motorische Schwierigkeit, so dass das Lautinventar stimulierbar (Fähigkeit alle Laute isoliert altersgemäß korrekt zu produzieren) ist. Die Folge der inkonsequenten Wortrealisationen ist, dass die Kinder auch für ihre direkte Umgebung fast unverständlich sind. Es lassen sich keine spontanen Veränderungen während der Wartezeit beobachten. Aufgrund der hohen Unverständlichkeit ist ein Therapiebeginn sogar noch vor dem vierten Geburtstag (<3;0 Jahre) sinnvoll.

Kinder mit einer phonetischer Störung (Lautfehlbildung) zeigen eine konsistente, meist die Sibilanten (Zischlaute) betreffende Lautfehlbildung, die sich auf Laut, Wort oder Satzebene im spontanen Sprechen und in jeder Art von Benennaufgaben nachweisen lässt. Es ist von peripher artikulatorischen Schwierigkeiten auszugehen, die myofunktionellen Störungen einhergehen können.

Da es bei Vorliegen einer phonetischen Störung nicht zu einer spontanen Besserung kommt, wird diese Problematik ohne Behandlung nicht überwunden. Uneinigkeit besteht allerdings über den besten Behandlungszeitpunkt von vor der Schule bis nach dem Zahnwechsel. Es liegen keine Daten vor, über den besten Behandlungszeitpunkt Aufschluss geben.

Bei der verbalen Entwicklungsdyspraxie (VED) handelt es sich um ein stark diskutiertes, auch als eigenständig angesehenes, Störungsbild. Da seine Hauptsymptomatik die Aussprache betrifft, wird es diesem Kapitel zugeordnet. Kinder mit VED können eine Vielfalt von Ausspracheauffälligkeiten (Auslassungen, Ersetzungen, Angleichungen) zeigen. Ihr Kernsymptom sind wie bei der inkonsequenten phonologischen Störung die hochgradig inkonsequenten Wortrealisationen. Zusätzlich werden prosodische (sprechmelodische) Auffälligkeiten und /oder Silben-Auslassungen, orale Dyspraxien und/oder Suchbewegungen beschrieben, verursacht durch eingeschränkte Fähigkeiten des motorischen Planung und oder der Programmierung von sprechmotorischen Sequenzen. Da es nicht zu spontanen Verbesserungen kommt, ist eine logopädische Therapie so früh wie möglich anzusetzen evtl. schon im Rahmen der Frühförderung.

Kinder mit einer kindlichen Dysarthrie zeigen Schwierigkeiten in der Produktion präziser motorischer Pläne und der Kontrolle der Sprechproduktion bei einer vorliegenden neurologischen Grunderkrankung. Kinder mit Dysarthrie können Symptome von oro-muskulärer Schwäche oder Koordinationsschwierigkeiten und auffälligem Muskeltonus zeigen. Auch hier beginnt die logopädische Behandlung schon im Rahmen der Frühförderung.

Kindliche Ausspracheentwicklung – PD Annette Fox-Boyer PhD (2024)

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